„Es ist wichtig, über neue Quellen der Wertschöpfung nachzudenken“
Prof. Fuest: Die Schwierigkeiten in der deutschen Industrie sind seit 2018 sichtbar. Sie haben sich in den letzten drei Jahren weiter verschärft, nicht zuletzt durch die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine für die Energiemärkte. Derzeit erhöhen die Zölle in den USA den Druck. Ich würde nicht sagen, dass Deutschland zwingend vor einer Deindustrialisierung steht. Aber es liegt auf der Hand, dass ein weiterer Rückgang der industriellen Wertschöpfung droht.
Das ist allerdings kein unabwendbares Schicksal. Politik und Wirtschaft in Deutschland stehen vor der Herausforderung, eine Deindustrialisierung zu verhindern. Dafür ist es erforderlich, neue Quellen industrieller Wertschöpfung zu erschließen. Dafür brauchen wir mehr Innovationen, insbesondere durch die Nutzung neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz, und mehr Unternehmensgründungen im industriellen Bereich.
In den meisten Ländern der westlichen Welt, so zum Beispiel in den USA und in vielen EU-Mitgliedsstaaten, liegt der Industrieanteil am BIP zum Teil weit unterhalb des entsprechenden Anteils in Deutschland von derzeit rund 20 %. Dennoch wird in vielen Nationen mehr Wachstum als hierzulande generiert. Ist in reifen Volkswirtschaften der Rückgang des Industrieanteils mithin etwas völlig Normales? Unter welchen Bedingungen könnte er Deutschland sogar von Nutzen sein?
Prof. Fuest: Wir beobachten in den Wirtschaftsnationen mit den höchsten Pro Kopf Einkommen seit längerer Zeit einen Trend zu sinkendem Industrieanteil und wachsender Bedeutung von Dienstleistungen. Dabei ist zu beachten, dass die Abgrenzung zwischen Industrie und Dienstleistungen zunehmend unscharf wird.
Aus diesem Trend kann man allerdings nicht folgern, dass man einen Rückgang industrieller Wertschöpfung in Deutschland auf die leichte Schulter nehmen kann. Bislang haben wir die Erfahrung gemacht, dass die spezifischen Wettbewerbsvorteile Deutschlands im industriellen Bereich liegen. In Dienstleistungsbereichen mit hoher Wertschöpfung wie dem Finanzsektor oder digitalen Plattformen tun deutsche Unternehmen sich eher schwer. Man kann davon ausgehen, dass die komparativen Vorteile Deutschlands im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung auch künftig zu einem erheblichen Teil im Bereich der Industrie liegen werden. Letztlich muss sich das an den Märkten erweisen, aber es wäre unklug, die Aufgabe des Industriestandorts Deutschland hinzunehmen.
Industrieverbände versichern, dass die Arbeitsplätze in der Industrie eine höhere Multiplikatorwirkung haben als die Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Die Wachstumskraft der High-Tech-Branchen scheint das zu bestätigen. Wie sehen Sie das?
Prof. Fuest: Es geht weniger um Multiplikatorwirkung als um Produktivität und Wertschöpfung. In der Industrie haben wir seit langer Zeit ein höheres Produktivitätswachstum als in anderen Sektoren. Wenn neue Sektoren mit ähnlich hoher Wertschöpfung außerhalb der Industrie entstehen, ist das zu begrüßen. Aber bislang sehen wir dafür in Deutschland nur wenig Anzeichen.
Derzeit bricht viel Wertschöpfung und Beschäftigung im Automobilbau, im Maschinenbau und in anderen klassischen Industriesektoren weg. Welche Sektoren bieten sich aus Ihrer Sicht an, um diesen – sehr wahrscheinlich dauerhaften – Verlust zu kompensieren?
Prof. Fuest: In den traditionell bedeutenden Sektoren der deutschen Industrie wie Automobil und Maschinenbau beobachten wir eine differenzierte Entwicklung. Die Wertschöpfung sinkt langsamer als die Produktion. Dahinter verbirgt sich ein Strukturwandel innerhalb der Unternehmen. Deutschland bewahrt zumindest derzeit noch typische „Headquarter-Funktionen“ wie etwa Forschung und Entwicklung, während die Produktion abwandert. Ob das dauerhaft so zu halten ist, wenn die heimische Produktion sinkt, ist fraglich. Es wäre wünschenswert, dass wir in Deutschland Rahmenbedingungen schaffen, um diese Strukturen zu halten, ohne notwendige Anpassungen zu verhindern.
Trotzdem ist es wichtig, über neue Quellen der Wertschöpfung nachzudenken. Das heißt allerdings nicht, die Wirtschaft sektoral zu steuern. Stattdessen geht es darum, in der Breite bessere Bedingungen für Innovationen in bestehenden und in neu gegründeten Unternehmen zu schaffen. Dazu gehören unter anderem mehr Arbeitsmarktflexibilität und Veränderungen im Steuerrecht und im Kapitalmarktrecht.
Was spricht dafür, dass die Produktion grüner Technologien ein Ersatz für den Rückgang klassischer Industrien bieten kann?
Prof. Fuest: Das ist mehr Wunschdenken als Realität. Dekarbonisierung bietet durchaus auch der deutschen Industrie, etwa dem Maschinenbau, Chancen. Aber sich darauf zu konzentrieren, wäre ein Fehler, das wäre viel zu eng. Derzeit sehen wir die größte Wertschöpfungsdynamik im Bereich von Unternehmen des Digitalsektors, nicht bei den grünen Technologien. Hinzu kommt, dass Deutschland bei vielen Produkten im Bereich grüner Technologien nicht wettbewerbsfähig ist. Das gilt vor allem für Produkte, die technisch ausgereift sind und in großen Zahlen produziert werden wie Solarpaneele, Wärmepumpen, Elektroautos und künftig vielleicht auch Windturbinen. Hier haben Schwellenländer wie China Wettbewerbsvorteile. Wir müssen breiter ansetzen. Große Chancen sehe ich zum Beispiel aus der Verbindung zwischen künstlicher Intelligenz und industrieller Produktion für eher spezialisierte Produkte mit begrenzten Vorteilen der Massenproduktion. Aber ob das trägt, muss sich am Markt erweisen.
Wir bedanken uns für das Gespräch.
Foto von Prof. Fuest liegt bei, Fotocredit: ifo Institut – Elias Hassos
Schmuckfoto Adobe Stock 1771100452