Wie Deutschlands Automobil­zulieferer ihr Überleben sichern können

Zerrüttete Lieferketten, horrende Energiepreise, zweistellige Inflation: Das Jahr 2022 hat viele Automobilzulieferer in Bedrängnis gebracht, es droht eine Insolvenzwelle. Wer die Krise überstehen will, muss rasch und konsequent handeln – in einer Doppelstrategie.

Die deutschen Automobilzulieferer stehen vor harten, entscheidenden Monaten. Während die OEMs dank hoher Auftragsbestände reihenweise Spitzenumsätze und zweistellige Umsatzrenditen verkünden, sind viele der meist mittelständischen Zulieferer an ihrer finanziellen Belastungsgrenze – oder darüber hinaus. Borgers und Dr. Schneider haben für ihre deutschen Gesellschaften Insolvenzantrag gestellt, andere Unternehmen kämpfen. Laut ifo-Institut verschlechtern sich Nachfrage und Erwartungen.

Schuld an der Misere ist eine seltene Ballung von Problemen seit 2020, erst die Pandemie, Lieferkettenprobleme, Engpässe bei Halbleitern und Rohstoffen. Die Zahl der in Deutschland produzierten Pkw brach auf nur noch 3,1 Millionen im Jahr 2021 ein. Dann kamen der Krieg in der Ukraine, Preissprünge bei Energie und Strom, eine zweistellige Inflation. Eine Lohn-Preis-Spirale sehen wir noch nicht, doch schon der Tarifabschluss in der Metall- und Elektro-Industrie mit einem Lohnplus von 8,5 Prozent über zwei Jahre und einer Einmalzahlung von 3.000 Euro wird vielen zusätzlich zu schaffen machen.

Um diese Krise zu überstehen, müssen Unternehmen eine Doppelstrategie verfolgen. Zum einen sollten sie rasch wirksame Maßnahmen ergreifen, um das kurzfristige Überleben zu sichern. Zum anderen sollten sie ihr Geschäftsmodell überprüfen, um sich für den strukturellen Wandel weg vom Verbrennungsmotor, hin zur E-Mobilität und einer 1,5-Grad-Wirtschaft zu wappnen.

 

JahrPkw-Inlandsproduktion deutscher HerstellerVeränderung zum Vorjahr
20165.746.8080,7%
20175.645.584-1,8 %
20185.120.409-9,3 %
20194.663.749-8,9 %
20203.515.488-24,6 %
20213.096.165-12,0 %

Quelle: VDA

Schritt 1: Nüchterne Bestandsaufnahme

In dieser Lage gibt es kein Patentrezept, nur individuelle Lösungen. So sollten Unternehmen, statt in Aktionismus zu verfallen, zunächst ein paar grundlegende Fragen beantworten, und zwar so ehrlich wie möglich:

  • Wie zukunftsfähig ist unser Geschäftsmodell? Sind wir international genug?
  • Wie gut haben wir unsere Hausaufgaben gemacht? Sind unsere internen Prozesse klar und effizient? Haben wir zu viele Kapazitäten oder zu viel Overhead? Herrscht Transparenz über Kosten, Verlustbringer und Liquidität? Sind wir gegen Risiken abgesichert?
  • Wie wichtig sind wir für unsere Kunden? Wie werden wir wichtiger? Wer den Status eines Single-Source-Zulieferers genießt, ist in Gesprächen mit OEMs und anderen Abnehmern in einer besseren Verhandlungsposition als der, der Standardware herstellt und daher (leider) austauschbar ist.
  • Wie krisenerfahren sind unser Management und unsere Schlüsselmitarbeiter?

 Schritt 2: Kurzfristige Stabilisierung

Das erste Ziel muss sein, für die nächsten drei bis sechs Monate Luft zu gewinnen.

Stellhebel 1 ist die radikale Sicherung der Liquidität, denn in aller Regel entscheidet sie über Wohl und Wehe. Treiben Sie Forderungen ein, bauen Sie Bestände ab, verhandeln Sie Zahlungsmodalitäten neu und strecken Sie Ihre Verbindlichkeiten – konsequent, aber immer im Geist einer fairen Lastenteilung. Installieren Sie ein Liquiditätsbüro, das alle Optionen prüft (Factoring, Sale-and-Lease-back und anderes mehr).

Stellhebel 2 ist eine Reduktion der Kosten, die immer auch die Liquidität stärkt. Verschaffen Sie sich Transparenz über alle klassischen Faktoren (wie Rohstoffe, Vorprodukte, Logistik, Mitarbeiter), um eine gute Basis für Sparmaßnahmen, Prioritäten und Verhandlungen zu haben.

Ein Sonderaugenmerk sollte der Optimierung bei Strom und Energie gelten. Kurzfristig können Sie einen Anbieterwechsel prüfen und die Effizienz erhöhen. (Mehr dazu im Beitrag „Strategien für Energieeffizienz und Beschaffung“, S. 28). Installieren Sie Bewegungssensoren, setzen Sie Sparlampen ein, modernisieren Sie Kompressoren. Schaffen Sie Generatoren an, nutzen Sie Nachtstrom (zum Beispiel bei Kühlaggregaten), verdichten Sie die Produktion auf wenige Anlagen und legen Sie still, was verzichtbar ist. Senken Sie die Arbeitstemperatur, nutzen Sie Ab- oder Prozesswärme sowie neue, bessere Heizungssysteme. Mit „low hanging fruits“ lassen sich schnell 20 bis 30 Prozent des Verbrauchs einsparen.

Mittelfristig scheint eine Umstellung auf erneuerbare Energien, insbesondere auf hauseigene Photovoltaik-Anlagen, sinnvoll. Verlagern Sie Kapazitäten in Länder, wo Energie günstiger ist. Verzichten Sie auf Produkte und Aufträge, die jetzt Verluste bringen. Legen Sie die Produktion auf ein Energiepreisniveau aus, das auch dauerhaft, im eingeschwungenen Zustand, beim Drei- bis Vierfachen des bisherigen liegen wird.

Stellhebel 3 sind Verhandlungen mit den Kunden (OEMs und große Zulieferer). Es ist schön, wenn sich Mercedes-Benz oder BMW über die Durchsetzung guter Preise beim Endverbraucher freuen, doch auch in der Branche sollte sich die Verteilung von Lasten ändern, die bisher sehr einseitig zu Gunsten der Hersteller ausfällt. So verzeichneten OEMs 2021 eine EBIT-Marge zwischen sechs und zwölf Prozent, während die Zulieferer schon 2020 auf nur gut zwei Prozent kamen.

EBIT-Marge deutscher Automobilzulieferer

Aktives, transparentes Vorgehen lohnt sich. Es gibt Zulieferer, die früh und selbstbewusst mit ihrem Cost-break-down zu OEMs gegangen sind, offensiv Hilfen gefordert haben – und damit erfolgreich waren. Mögliche Beiträge der OEMs umfassen eine (teilweise) Übernahme der Kostensteigerungen, die Vorfinanzierung von Anschaffungen etwa von Anlagen oder Werkzeugen, (zeitweise) Kredite oder Ko-Investitionen sowie mehr Augenhöhe und Zuverlässigkeit bei den Abrufen. Immer wieder kam es 2022 vor, dass Kunden Donnerstagabend anriefen und verkündeten, dass ein Werk in der Woche darauf stillstehen und die vereinbarten Mengen nicht abnehmen werde. Die Folgen trug häufig allein der Zulieferer.

Stellhebel 4: Suchen Sie das Gespräch mit anderen Stakeholdern wie Banken, Finanzierern und Gesellschaftern, um Refinanzierung und Kapitalisierung abzusichern. Beziehen Sie die Mitarbeiter mit ein – die Praxis zeigt, dass diese, einmal für den Ernst der Lage sensibilisiert, offen dafür sind, Zahlungen zu vertagen oder anderweitig zu helfen.

Stellhebel 5 ist ein fokussierter Plan zur Performance-Verbesserung samt Project Management Office (PMO) und konsequenter Verfolgung der Ziele. Arbeiten Sie in der Umsetzung mit wenigen maßgeschneiderten Kennzahlen (KPIs). Etablieren Sie regelmäßige Update-Runden und fassen Sie nach, wo nötig. Stärken Sie das Management mit erfahrenen Externen – für Krisenexpertise und strikte Steuerung.

Schritt 3: Langfristige Neuausrichtung

Die Krise fällt mitten in einen Strukturwandel. Das Aus des Verbrennungsmotors ist in der EU für 2035 beschlossen, die Vorgaben für mehr Klimaschutz und weniger Emissionen werden strenger, viele OEMs haben die Weichen bereits Richtung E-Mobilität gestellt. Bedenken Sie bei den kurzfristigen Maßnahmen immer, was noch Zukunft hat – und was nicht (mehr). Es ist Zeit für Entscheidungen. Die Kombination aus kurzfristiger Not und langfristigem Wandel verzeiht keine Halbherzigkeit.

Richten Sie Ihr Geschäftsmodell auf das „New Normal“ aus: Welche Wertpositionierung verspricht auch künftig Absatz sowie eine Differenzierung im Markt? Welches Wertangebot stiftet den Kunden Nutzen? Wie muss die Wertschöpfung neu gestaltet werden? Welche Preisgestaltung sichert die maximale Wertabschöpfung? Welche Ressourcen und Instrumente brauchen Sie für die nötige Wertdisziplin?

Konkret heißt das: Straffen Sie das Produktportfolio und eliminieren Sie Verlustbringer. Reduzieren Sie die Komplexität, fokussieren Sie sich technologisch und prüfen Sie ihre Standortstrategie. Verschlanken Sie Organisation und Prozesse. Geben Sie auf, was ohne Perspektive ist.

Was Sie beibehalten, sollten Sie in seiner Wettbewerbsfähigkeit stärken. Strecken oder fahren Sie Investitionen (zum Beispiel in Software) herunter, aber mit Augenmaß. Prüfen Sie, welche Quote von Investitionen zu Umsatz Sie sich mit Blick auf Anlagen oder Werkzeuge strategisch mindestens erlauben müssen – und maximal erlauben wollen.

Ausblick

Die deutschen Automobilzulieferer scheinen in einer Dauerkrise gefangen, gerade auch im Vergleich mit der globalen Konkurrenz (die in China, Indien, Brasilien oder den USA selbst 2021 noch von einer steigende Pkw-Produktion profitierte). Kurzfristig sind daher Kreativität und Konsequenz gefragt. Mittelfristig müssen die Unternehmen ihr Geschäftsmodell auf das „New Normal“ ausrichten – den Strukturwandel und dauerhaft höhere Energiepreise.

Von der Politik sind bisher nur Absichtserklärungen zu hören. So werden die meisten Autozulieferer auf einen Maßnahmen-Mix zurückgreifen müssen, bestehend aus der Weitergabe von Preiserhöhungen, Einsparungen, höherer Effizienz, Beiträgen der Mitarbeiter sowie Unterstützung seitens der Gesellschafter und Finanzierer. Es ist Zeit für eine deutliche Reduzierung der Lasten – fair und auf möglichst viele Schultern verteilt.