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Prof. Dr. Jutta Günther 13 Nachrichten 4-2021 Aktuelles aus Wirtschaft & Politik sehr großen Maßstab zu produzieren. Dafür sind entsprechend hohe Mengen Strom aus erneuer- baren Quellen, insbesondere aus Sonnen- und Windenergie, erforderlich. Diese Kapazitäten stehen derzeit nicht zur Verfügung, sondern müssen jetzt mit großer Geschwindigkeit in Deutschland und international aufgebaut werden. Von welchem Strombedarf sprechen wir überhaupt? Können wir die benötigten Mengen in Deutschland selbst produzieren? Prof. Günther: Wir sprechen von gigantischen Mengen. Um beispielsweise das Stahlwerk in Bremen, in dem jährlich circa vier Millionen Ton- nen Stahl erzeugt werden, vollständig mit grü- nem Wasserstoff zu versorgen, wären mehrere Hundert Offshore-Windkrafträder erforderlich. Daher geht man davon aus, dass die für die In- dustrieproduktion in Deutschland erforderlichen Mengen auch durch Importe aus anderen Regi- onen der Welt gedeckt werden müssen. Derzeit diskutiert man unter anderem Importe von Was- serstoff aus Nordafrika. Der Transport könnte über Schiffe oder Pipelines erfolgen, was die Rolle der Häfen in den Blick rückt. Aus den Küs- tenregionen muss der Wasserstoff dann in die Industriezentren gelangen, was wiederum große Infrastrukturlösungen erforderlich macht. Kann die deutsche Industrie diesen Techno logiesprung aus eigener Kraft bewältigen? Prof. Günther: Der Technologiesprung hin zu grünem Wasserstoff wird stufenweise erfolgen. Es ist vorgesehen, dass der CO2-intensive, auf Kohle oder Erdgas basierende graue Wasser- stoff zunehmend durch blauen Wasserstoff ersetzt wird. Dieser basiert auf Erdgas als Energieträger, jedoch werden mittels CCS-Ver- fahren (Carbon Capture & Storage) keine CO2- Emissionen freigegeben. Hier geht es aber um eine Übergangstechnologie, da die unterirdi- sche Speicherung das CO2-Problem nur vorü- bergehend löst. Inzwischen werden Pilotanlagen und erste Elek- trolyseure zur Erzeugung von grünem Stahl in Betrieb genommen oder aufgebaut. Die erfor- derlichen Investitionen in Anlagen, Infrastruktur und Forschung kann die Industrie nicht alleine bewältigen. Daher haben der Bund und die EU große Investitions- und Forschungsprogramme aufgelegt, die die Transformation in den kom- menden Jahren unterstützen werden. Volkswirtschaftlich betrachtet: Wie sinnvoll ist es, Strom aus erneuerbaren Quellen für die Stahlherstellung aus dem Ausland zu beziehen? Verlagern wir damit nicht nur die eine Abhängigkeit von der anderen? Prof. Günther: Der internationale Handel beruht immer auf Arbeitsteilung und Spezialisierung. Im Idealfall sind die Beziehungen von Partner- schaftlichkeit geprägt. Mögliche negative Folgen oder Risiken aus einer gegenseitigen Abhängig- keit lassen sich nur um den Preis einer Autarkie vermeiden, und dieser Preis wäre unrealistisch hoch. Man kann aber das Risiko der Abhängig- keit durch Diversifizierung der Bezugsquellen, durch Forschungskapazitäten zu Alternativen und durch die Pflege internationaler Beziehun- gen reduzieren.